Physiotherapie

Zweck der Physiotherapie bei ALS

„Bei der Physiotherapie werden die Beine und Arme gedehnt, das ist doch Krankengymnastik“. Das ist wahrscheinlich die Sichtweise und Vorstellung vieler Menschen zur Physiotherapie, die sich nicht in Behandlung einer solchen Therapie befinden. Aber die Physiotherapie ist weit mehr als das und umfasst ebenso, wie die anderen symptomatischen Therapien auch, ein sehr großes Gebiet an Aufgaben und Möglichkeiten. Mit der Physiotherapie und der damit verbundenen Lymphdrainage erreicht man die Aktivierung verschiedener Muskelgruppen und Reduzierung der Lymphödeme. Die ALS bedingte Kraftminderung und die damit verbundenen Folgen wie Gelenkkapselschmerzen, Arthrosen und Sehnenverkürzungen können ebenfalls durch die Therapie reduziert werden. Die zur Verfügung stehenden Therapieformen und Behandlungsintervalle zählen zu den wichtigsten Entscheidungen bei der ALS Versorgung und zählen zu einem zentralen und wichtigen Bestandteil der symptomatischen Therapien.

Therapieinhalte

(Quelle: DGM-Informationen Physiotherapie für Patienten mit ALS)

Die Therapieinhalte können entsprechend der realisierbaren Zielsetzungen der Behandlung variieren.

  • Aktivierung nicht betroffener Muskulatur
  • Schulung der Körperwahrnehmung
  • Optimierung von Bewegungsabläufen, insbesondere bezgl. Muskelkraft und Koordination
  • Zulassung von Kompensationsstrategien
  • Tonus Regulation spastischer Muskulatur
  • Muskelpflege überbeanspruchter Muskulatur mittels Wärmeanwendungen, Massagen, sanften Dehnungen
  • Einstauende Maßnahmen wie z. B. Lymphdrainage
  • Kontrakturprophylaxe
  • Pneumonie-Prophylaxe, dosierte Atemtherapie, Sekret Management
  • Maßnahmen zur Schmerzlinderung
  • Hilfsmittelversorgung (Bedarf prüfen, Handhabung üben)
  • Förderung der Motivation des Patienten
  • Anleitung von Angehörigen

Atemtherapie

Ein weiterer wesentlicher Bereich der Physiotherapie ist die Atemtherapie aufgrund einer Beeinträchtigung der von Atrophien betroffenen Atemmuskulatur beim ALS-Erkrankten. Die Ateminsuffizienz und deren Folgen sind in vielen Fällen lebensbegrenzender Faktor der ALS. Dadurch ist die Atemtherapie von großer Bedeutung. Bereits in einem frühen Stadium sollte die Atemtherapie eingesetzt werden, um die vorhandenen Kraftreserven optimal zu nutzen. Die Atemfunktion wird durch eine Schwäche der Brustmuskulatur und des Zwerchfells eingeschränkt. Hierbei sind die Thorax-Beweglichkeit, der Atemweg, die Atemrichtung, Frequenz, Rhythmus und Symmetrie, Sekret Mobilisation von Fachärzten und Atemtherapeuten in den Spezialambulanzen und neuromuskulären Zentren von Fachärzten zu bewerten und festzulegen. Technische Hilfsmittel wie die NIV-Maske für eine nicht invasive Beatmung (siehe Menüpunkt Hilfsmittel) dienen zusätzlich zur Unterstützung. Die Atemtherapie ist bei dieser sensiblen Körperfunktion genau anzupassen, ohne dass eine Überforderung des Betroffenen entsteht. Ziel der Maßnahmen ist die Schulung der Wahrnehmung der Atmung durch den Patient, die Arbeit der Atemmuskulatur zu entlasten und die geschwächte Muskulatur zu stimulieren. Das Abhusten des Sekrets wird zu einem Problem, da die muskuläre Kraft dazu nicht mehr vorhanden ist. Die Sekretmobilisation wird mittels eines Hustenassistenten (siehe Menüpunkt Hilfsmittel) gefördert und unterstützt. Jeder Therapeut sollte grundsätzlich die Techniken anwenden, die er am besten beherrscht.

Inhalte der Atemtherapie

  • Schulung der Atemwahrnehmung
  • Sekretmobilisation
  • Stimulation der zu schwachen Einatemmuskulatur
  • Vermittlung von atemerleichternden Positionen
  • Erarbeitung verschiedener Hustentechniken
  • Senkung der Gewebswiderstände
  • Mobilisierung von Thorax und Rippen

Symptome und deren Behandlung

Bei 60-70 % aller ALS Erkrankungen treten die ersten  Symptome an den Extremitäten auf.  Hier ist die Physiotherapie betreffend, besonders eine Gangunsicherheit und ein Kraftverlust bzw.  eine Schwäche in den Beinen hervorzuheben. Der Verlauf einer ALS wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, welche Muskelgruppen zuerst betroffen sind. Die Symptome beginnen oft in einer isolierten Muskelregion (z. B. in den kleinen Handmuskeln) in den oberen Extremitäten. Diese weiten sich dann auf eine benachbarte Muskelregion (z. B. vom Arm auf die gleichseitige Schulter oder von Arm zu Arm) aus. Bewegungshandlungen wie z. B. das Essen, Schreiben, Heben, Tragen oder auch die Körperpflege sind zunehmend betroffen und werden dem Erkrankten deutlich erschwert. Der zeitliche Verlauf einer solchen Ausweitung kann hier von wenigen Wochen bis hin zu vielen Monaten betragen. Muskelschwund und Spastik bedeuten eine fortschreitende Lähmung der Extremität. Eine immer stärker werdende Gehstörung stellt sich beim Erkrankten dar, wenn zuerst die unteren Extremitäten (Beine und Füße) betroffen sind. Bereits früh ist der Erkrankte dann auf Hilfsmittel wie Rollator und Rollstuhl angewiesen. Die Komplexität und die verschiedenen Verlaufsformen bei der ALS erfordern von den Physiotherapeuten ein breites Fachwissen und eine genaue Auseinandersetzung mit dem Krankheitsprozess. Da der Krankheitsverlauf nicht vorauszusehen ist, erfordert dies von den Therapeuten eine permanente Beobachtung des Patienten und eine stetige Anpassung der Therapieinhalte. Der Erkrankte soll seinen Alltag möglichst lange selbstbestimmt gestalten können, daher werden verschiedene therapeutische Techniken für die Muskulatur, zur Schmerzlinderung, zur Entspannung, zur Stimulation der Atmung angewandt und mit Hilfe einer passenden Hilfsmittelversorgung kann dem Betroffenen dies ermöglicht werden. Mit Zunahme der Muskelschwäche, Spastik und dem Muskelschwund verlagern sich die Schwerpunkte der Behandlung von einem zunächst aktiven Ansatz auf den Einsatz von unterstützenden und passiven Therapiemaßnahmen. Durch Beratung und Anleitung der Angehörigen durch Therapeuten, wird die Therapie zusätzlich unterstützt, und die Angehörigen werden durch fachgerechtes Vorgehen im Alltag entlastet. Die betroffene Muskulatur arbeitet bei der ALS oft an der Leistungsgrenze und die Belastungsdosierung der Therapie sollte den Erkrankten nicht überfordern. Eine regelmäßige Abstimmung zwischen Therapeut und Erkrankten ist daher sehr wichtig. Von einem Kraftraining ist absolut abzuraten, da der Muskelschwund durch die fehlenden Impulse der betroffenen Nervenzelle entsteht und diese Muskeln nicht wieder aufgebaut werden können. Primäres Ziel der Physiotherapie bei ALS ist, die Folgen der Erkrankung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu lindern und die Bewegungsfähigkeit, die Selbstständigkeit im Alltag und die Lebensqualität und Würde des Betroffenen so lange wie möglich zu erhalten.     

Behandlungsgrundsätze

  • Vorausschauende und verlaufsorientierte Therapieplanung
  • Akzeptanz zunehmender Funktionsverluste
  • Beobachtung und Vermeidung einer Überschreitung der Leistungsgrenze des Betroffenen
  • Einbeziehung von Angehörigen und Pflegediensten in die Therapie
  • Abstimmung und Koordination mit Therapeuten der Logopädie und Ergotherapie, um eine Therapieoptimierung zu erzielen.
  • Festlegung von Funktionen als Therapiemittelpunkt (z. B. Atmung)

Die drei Phasen der Betroffenen im Verlauf der Krankheit und die damit verbundenen Möglichkeiten der Physiotherapie

In Bezug auf die Fähigkeit des Patienten, die Schwerkraft mittels eigener Muskelkraft zu überwinden, kann man den ALS Krankheitsverlauf grob in drei Phasen einteilen:

Aktive Phase:
Der Erkrankte spürt den Beginn der Erkrankung mit ersten Schwächen in den betroffenen Körperregionen. Die Schwerkraft lässt sich noch durch die eigene Muskelkraft überwinden und alle Bewegungen sind aktiv möglich. Viele Potenziale stecken in dieser Phase, um die betroffene Muskulatur mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu aktivieren. Die Schulung der Körperwahrnehmung ermöglicht es, dem Patienten eigene Leistungsreserven, aber auch Grenzen zu erkennen. Die noch vorhandene Muskelkraft kann zielgerecht und effektiv eingesetzt werden. Langsam verlorengehende Funktionen können durch die Erarbeitung von Kompensationsstrategien, z. B. beim Gehen, zum Teil ausgeglichen werden. Die Förderung dieser Bewegungsstrategien steht im Vergleich zu anderen Krankheiten im Vordergrund und ist oftmals die einzige Alternative, um den Alltag so lange wie möglich selbstbestimmend zu gestalten.

Assistive Phase:
Die Atrophien der Muskulatur haben immer schwerere Lähmungserscheinungen zur Folge. Die Wahrnehmung der funktionellen Beeinträchtigung ist ganz unterschiedlich Der Erkrankte bemerkt fortschreitend, dass auch andere Körperfunktionen betroffen sind. Oft wird die von Kraft geschwächte Muskulatur über einen langen Zeitraum an ihrer Leistungsgrenze belastet. Fehlbelastungen, Verspannungen und eine Erhöhung des Tonus mit Folgeschmerzen sind das Ergebnis dieser Belastungen. Sanfte Dehnungen, Wärmebehandlungen und Massagen sind hier als regulierende Maßnahmen zu empfehlen. Allerdings ist unbedingt die Dosierung zu beachten. Eine überhöhte Entspannung der Muskulatur kann ggfs. zu einer zeitweisen Funktionsverschlechterung führen. Der Betroffene benötigt aktive Unterstützung bei den aktiven Bewegungen gegen die Schwerkraft. Kontrakturen werden durch vorsichtige Muskeldehnungen und regelmäßiges Bewegen der Gelenke verhindert. Die Bewegungen dürfen nur im schmerzfreien Bereich und nicht endgradig erfolgen, da die muskuläre Sicherung der Gelenke, insbesondere des Schultergelenks, stark eingeschränkt ist. In dieser Phase ist es empfehlenswert, die Angehörigen in die Therapie mit einzubeziehen und entsprechend anzuleiten. Durch die Kenntnis effektiver Transfertechniken kann der Angehörige sich selbst schützen und entlasten, aber auch den Betroffenen vor den Folgen eines unsachgemäßen Umgangs.

Passive Phase:
Die Paresen sind zu diesem Zeitpunkt der Erkrankung bereits weit fortgeschritten. Dem Betroffenen ist es nicht mehr möglich, den Alltag aktiv und eigenständig zu bewältigen. Eine Pflege und Hilfe durch Dritte ist rund um die Uhr erforderlich. Die Funktionen werden durch Hilfsmittel unterstützt und so wird dem Betroffenen die Teilnahme am täglichen Leben noch ermöglicht. Die meiste Zeit des Tages verbringt der Betroffene im Sitzen oder im Liegen. Kommunikationsfähigkeit, Nahrungsaufnahme und Atmung sind in unterschiedlichem Maße eingeschränkt oder diese Funktionen sind bereits gar nicht mehr möglich. Passive und palliative Maßnahmen werden jetzt zum Mittelpunkt der Therapie, wie Lagerung, Entspannung, Schmerzlinderung und wahrnehmungsorientiertes Bewegen. 

Seit wann bin ich Patient der Physiotherapie und welche Erfahrungen habe ich damit gemacht?

Ebenfalls unmittelbar nach meiner Diagnose im November 2018 wurde ich am RKU Ulm, noch während meines stationären Aufenthalts, von Physiotherapeuten des Klinikums beraten. Etwa zeitgleich mit den Bemühungen eines Ergotherapieplatzes habe ich mich Ende 2018 um einen Physiotherapieplatz bemüht und diesen auch sofort gefunden. Seitdem befinde ich mich regelmässig in der Behandlung der Physiotherapie. Die Krankheit begann bei mir in den oberen Extremitäten in den Händen und etwas früher in den unteren Extremitäten in Form einer Schwäche und Unstabilität im linken Bein. Die Beschwerden haben sich bis heute natürlich nach und nach gesteigert. Viele Stürze waren die Folge. Anfangs nahm ich noch einen Walkingstock zur Hilfe, später zwei Walkingstöcke. Dann folgte der Einsatz eines Rollators und schließlich der Rollstuhl. Begonnen mit einer Therapieeinheit von 20 Minuten pro Woche, wurde dies schnell auf 40 Minuten pro Woche erhöht und stetig gesteigert. Mittlerweile bin ich mit zwei Therapieeinheiten wöchentlich a 40 Minuten + einmal wöchentlich 30 Minuten Lymphdrainage bei der Physiotherapie in Behandlung. Der Bedarf für mehr Physiotherapie ist da, aber zusätzlich mit Ergotherapie und Logopädie bin ich viermal wöchentlich in Therapiebehandlung und habe aufgrund des schlechter werdenden Gesundheitszustandes meine persönliche Grenze erreicht. Sicherlich ist es einerseits mit dem Krankheitsverlauf zu begründen, aber der Physiotherapie habe ich es zu verdanken, dass ich mich im 3.Jahr nach meiner Diagnose immer noch mit dem Rollator selbstständig bewegen kann. Ich habe bereits viele verschiedene Therapiemaßnahmen erlebt und es ist für meinen Alltag ungeheuer wichtig, dass die Bewegungsfähigkeit bis jetzt erhalten werden konnte. Auch bei der Physiotherapie gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit ALS. Ich erlebe einen großen Einsatz der Therapeuten mit breiter Fachkenntnis und große psychische Unterstützer und Motivatoren.

ALS
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Thorsten Voß
Könisgsberger Straße 29
57482 Wenden – Rothemühle